„Stress macht zunächst einmal glücklich“

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Eine Burnout-Expertin klärt auf

Anti-Stress-Training, Achtsamkeitslehre, Yoga-Kurs, Entspannungsübungen – wir suchen ständig nach Möglichkeiten, uns vom alltäglichen Stress zu befreien. Die Pädagogin Helen Heinemann, Expertin für Stress und Burnout-Prävention, warnt in ihrem Buch „Warum Stress glücklich macht – Oder: Wieso wir aufhören sollten zu entspannen“ davor, das Glück nur in der Entspannung zu suchen. Wir haben mit ihr über das Phänomen Stress gesprochen.

Frau Heinemann, das Wort „Stress“ hat in unserer Gesellschaft eine sehr negative Konnotation. Warum ist das Ihrer Meinung nach so?

Eigentlich sind es ja eher die Folgen von anhaltendem Stress, die uns belasten und die negativ wahrgenommen werden. Der Stress selbst ist zunächst einmal ein positives Gefühl. Er ist eine Reaktion unseres Körpers, wenn wir eine Situation als bedrohend oder herausfordernd empfinden – also, wenn wir gefordert sind, sehr wach und leistungsstark zu sein. 

Wie genau reagiert unser Körper denn bei Stress?

Ursprünglich sind wir dafür gebaut, dass wir in bedrohlichen Situationen für den Kampf oder die Flucht bereit sein. Wenn ich unter Stress stehe, wird deshalb Adrenalin ausgeschüttet und sorgt dafür, dass ich sehr konzentriert und entscheidungsfreudig bin. Wird der Stress größer, kommt außerdem die Ausschüttung von Endorphinen hinzu, die uns wohlfühlen lassen. Für unsere Vorfahren war das nötig, um auf der Flucht mögliche Verletzungen oder die einsetzende Erschöpfung nicht wahrzunehmen. Auch heute noch reagiert unser Körper bei größeren Herausforderungen auf diese Weise – und das ist erstmal toll. In diesen Situationen macht Stress zunächst einmal glücklich.

„Stress macht glücklich“ ist auch der Titel Ihres jüngsten Buches. Wie reagieren denn Ihre teils sehr gestressten Klienten darauf?

Zunächst finden es manche meiner Teilnehmenden tatsächlich nicht so lustig. Aber wenn sie neugierig geworden sind, lesen sie weiter und merken, dass der Titel bewusst etwas provokant ist und es im Kern um etwas anderes geht: Immer völlig ausgeglichen und ausgewogen zu sein, ist auf Dauer auch langweilig. Wir wollen und brauchen die stressigen Spitzen und Hochleistungsphasen in unserem Leben.

Viele Menschen behaupten ja ohnehin, nur unter Stress und Druck arbeiten zu können. Und jeder von uns kennt die Situation, dass man in den fünf Minuten, bevor der Besuch kommt, mehr im Haushalt schafft als sonst im ganzen Monat.

Ja genau. Unter Stress haben wir eben eine besonders hohe Leistungsfähigkeit. Ich packe meinen Koffer zum Beispiel ganz bewusst immer auf den letzten Drücker, kurz bevor ich meinen Flug bekommen muss - weil ich dann sehr entscheidungsfreudig bin. Das ist in der angesprochenen Situation mit dem anstehenden Besuch ähnlich. 

Wenn ich unter Stress stehe, habe ich keine Zweifel und ziehe das Ding durch. Ich hätte hier bei mir zuhause wohl auch nicht so viel Ordnung, wenn ich nicht so oft auf Reisen wäre und kurz vor dem Aufbruch noch so einiges regeln müsste. (lacht)

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Trotzdem gibt es viele Menschen, die unter Stress leiden und deshalb auch zu Ihnen kommen.

Das Problematische ist, dass in Stresssituationen auch das Steroidhormon Cortison ausgeschüttet wird, welches uns wach und empfindlich macht. Schließlich mussten unsere Vorfahren während der bedrohlichen Situationen besonders genau auf ihre Umgebung achten und durften auf keinen Fall einschlafen. Doch wenn alles endgültig überstanden war, konnte der Körper zur Ruhe kommen. 

Heute geht bei uns hingegen alles Schlag auf Schlag. Hier gibt es den nächsten Kunden, dort ist jemand nicht zufrieden, jenes muss noch ganz schnell fertig werden und zuhause ist etwas Wichtiges passiert, auf das man auch reagieren möchte. Bei vielen Menschen führt der dauerhaft erhöhte Cortisolspiegel zu Schlafstörungen oder empfindlichen Reaktionen auf die eigene Umwelt. Entscheidend ist also, dass wir neben den Höhepunkten auch wieder Auszeiten haben, in denen das System runterfährt.

Dabei lautet der Untertitel Ihres Buches doch „Wieso wir aufhören sollten zu entspannen“.

Richtig. Denn ich arbeite überwiegend mit Menschen, die Leistungsträger in ihren Berufsfeldern sind und einfach alles perfekt machen wollen - selbst das mit der Entspannung. Wenn sie autogenes Training machen, machen sie das ganz genau. Fangen sie an zu laufen, trainieren sie gleich für den Marathon. Sie machen alles im gleichen Modus - mit Zielformulierungen, mit hohen Erwartungen, mit großer Anstrengung. Dabei geht es bei Entspannung darum, aus dem alten Muster auszubrechen und herunterzufahren. Dazu kann auch gehören, sich ausnahmsweise mal etwas Fast Food zu gönnen. 

Wenn Sie an Ihre Arbeit in der Krisenintervention denken: Wie wichtig ist ein Zuhause, in dem man sich wohl fühlt?

Das hat natürlich absolute Priorität. Denn das Zuhause ist der Ort, an dem ich mich regeneriere. Gerade bei jungen Familien, mit denen ich zu tun habe, erlebe ich häufig, dass außer dem Elternschlafzimmer alles auf die Kinder ausgerichtet ist. Hier fehlt letztlich ein persönlicher Rückzugsort für beide Partner.

Verraten Sie uns bitte abschließend: Wie genau lässt man denn den Stress vor der Wohnungstür?

Was bei vielen Menschen fehlt, ist eine kurze, bewusste Unterbrechung zwischen Arbeit und Privatleben. Oft hetzen wir noch schnell in den überfüllten Supermarkt, stellen zuhause direkt eine Maschine Wäsche an und schon geht die Arbeit nahtlos weiter. Dabei sollte der Wechsel von einer Kultur in die andere ritualisierter ablaufen. 

Ein kurzer Break sorgt dafür, dass wir den Stress physisch aus unserem Körper bekommen. Das kann durch einen kurzen Spaziergang geschehen, ein Sportprogramm oder einfach dadurch, dass man seinem Partner für 10 Minuten von seinem Tag berichtet - ohne jede Ablenkung. Manche Menschen springen nach der Arbeit auch noch einmal unter die Dusche und wechseln ihre Kleidung. So streifen sie den Arbeitsalltag mit einem Ritual ganz einfach ab.

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