Die neue Sehnsucht nach Bullerbü

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Urbanes Landleben

Gärtnern auf Balkonien, Backen nach Großmutter-Art und Einrichten nach Shabby Chic-Manier: Immer mehr Menschen schaffen sich Landatmosphäre in der City, mit nahezu allem was dazu gehört. Doch obwohl der Wunsch nach Natur im Alltag groß ist, ziehen die Wenigsten von der Stadt aufs Land. Die neuen Landhausfans bedienen sich lieber dem Besten aus zwei Welten. Das Phänomen avanciert mittlerweile zum Lebensstil.

Urbane Ländliche, die so genannten „Neo-Ökos“, wollen dem stressigen Stadtleben gelegentlich eine Absage erteilen. „Sie wollen raus aus ihrem Hamsterrad und zentrieren sich um, damit sie wieder den sinnlichen Reichtum des Lebens spüren“, sagt Stephan Grünewald, Diplom-Psychologe und Mitbegründer des rheingold-Instituts in Köln. Dies hat auch viel mit Sehnsüchten zu tun. „Wer ständig in der digitalen Multioptionalität lebt, sehnt sich wieder nach einer analogen Lebensweise“, erklärt er.

Und diese zeigt sich im eigenen Traum vom einfachen Landleben und dem Wunsch, ein entschleunigtes Leben in und mit der Natur zu führen. Alles Häusliche erfährt wieder einen hohen Stellenwert, es ist geradezu „en vogue“, seine eigenen Pullis zu stricken und Kleider zu nähen, am Kochtopf für die Familie zu stehen und Erdbeeren vom Balkonkasten zu ernten. Weiß-graue, nachgemachte Landhausmöbel im Wohnzimmer erinnern an vergangene Zeiten, üppige Blumenkränze und Holzdekoration an Jahreszeit und Feiertage.

In der Stadt wohnen und sich nach dem schönen Landleben sehnen. „Menschen suchen sich gerne einen Kompromiss aus beiden Welten“, sagt Grünewald. So kann das schöne Bild vom Landleben genügen, um mit diesen Glücksmomenten zur Ruhe zu kommen.

Medialer Pionier und Trendanführer ist seit zehn Jahren die Zeitschrift „Landlust“ aus dem Landwirtschaftsverlag Münster. Mit mehr als einer Million Lesern hält das Magazin pro Ausgabe weiterhin mehr Rezipienten als der Spiegel. Schöne Themen rund um den Bauernhof, weit weg von Mähdreschern, Milchkühen und Bewässerungstechnik, wecken die Begeisterung für das ländliche Leben.

„Wirkliche Landwirtschaft wird nicht dargestellt, sondern häusliche Themen“, sagt Mareike Egnolff, die im November ihre Doktorarbeit zum gleichnamigen Thema an der Universität des Saarlandes veröffentlichte. „Es sind bewusst positive Freizeitthemen, die hier gewählt werden. Von Kochrezepten bis hin zu Anleitungen zum Dekorieren, die man auch in der städtischen Wohnung umsetzen kann“, so Egnolff. Nach ihrer Erkenntnis geht es hierin auch um Wissen, das so in der Gesellschaft kaum noch vorhanden ist – wie beispielsweise Anbautechniken und Möglichkeiten der Gartennutzung. Jüngst widmete sich die Zeitschrift auch verschiedenen Heilkräutern und historischen Apfelsorten.

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Traum vom Landleben? In der Realität haben ländliche Regionen seit Jahren mit einer Abwanderung zu kämpfen.

In jeder Ausgabe wird über mehrere Seiten hinweg auch das ländliche Leben in Traumhäusern vorgestellt, glückliche Paare und Familien wie aus dem Bilderbuch. „Die Realität sieht meist ganz anders aus“, sagt Claudia Ohlsen, Kulturwissenschaftlerin an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. „Überalterung, Abwanderung und eine fehlende Infrastruktur – das sind die Probleme, mit denen die Leute sich heute auf dem Land beschäftigen.“ Auch dekorieren Landfrauen nicht permanent ihre Bude um, sagt sie. Viele würden sich nach der Arbeit politisch und wirtschaftlich für die Region einsetzen.

Dennoch hat sie im Rahmen ihrer Forschung über die Vermarktung der Ländlichkeit Leute auf dem Land erlebt, die gerne in solchen Zeitschriften blättern. Denn: „Den klassischen Bauernhof gibt es nicht mehr“, sagt sie. „Das sind alles Landwirtschaftsunternehmen, fernab des Landlust-Idylls.“ Somit könne auch auf dem Land die Sehnsucht entstehen, anders zu leben. Einen individuellen Ausschnitt der gezeigten Landwelt integriert jeder auf seine eigene Weise in den Alltag. „Als eine Art Kompensation“, ergänzt Ohlsen.

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Die Sehnsucht nach dem ruhigen Leben auf dem Land ist nicht neu. Schon seit der Romantik und später mit der „Sättigung“ der gut situierten Bürger während der Industrialisierung ziehe es Stadtmenschen aufs Land, sagt Claudia Ohlsen. Die Idylle wurde schon damals für Erholungssuchende inszeniert. Besonders in Zeiten des Umbruchs – sei es die Wirtschaftskrise oder politische Verunsicherung – wächst der Wunsch nach einem friedlichen Zuhause. Neu ist dabei die Verbindung von mehreren Idealen: Auf der einen Seite mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren und mit Freunden ins Theater gehen, auf der anderen Seite Kräuter im Topf anpflanzen, einen Hefezopf backen und sich ein Stück Ackerfläche am Stadtrand mit Nachbarn teilen. Mittlerweile sind es auch nicht mehr nur die Medien, die diesem Lebensstil eine starke Präsenz verleihen: Stadtnahe Landmärkte, Hofläden und Gartenausstellungen haben das neue Geschäft mit der Bullerbü-Idylle erkannt. „Ob die Menschen hier nachgemachte, teure Land-Accessoires aus China kaufen, darauf kommt es nicht an“, sagt Claudia Ohlsen. Vielmehr gehe es darum, was man im Hier und Jetzt empfindet. Die Nähe zu etwas Ursprünglichem.

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